Der Olympiaberg ist nicht der Monte Rosa. Mit 564 Metern ist der Hügel die zweithöchste Erhebung Münchens, während die Dufourspitze, ein Gipfel des Monte-Rosa-Massivs, mit 4634 Metern die zweithöchste Spitze der Alpen ist. Die knapp 60 Höhenmeter auf den Olympiaberg sind für Paolo Cognetti eigentlich ein Klacks - doch er kommt beim Aufstieg ein bisschen ins Keuchen. Der 43-Jährige hat einige Viertausender in den Alpen bestiegen, war im Himalaja unterwegs und wohnt mehrere Monate im Jahr in einer Hütte auf der Südseite des Monte Rosa. Doch im Moment ist der italienische Autor leicht außer Puste, weil er sich erkältet hat. Auf seiner Lesereise durch Deutschland - Hamburg, Berlin, München in drei Tagen - war es doch etwas kühler als erwartet. Bei der Mini-Bergtour in München trägt Cognetti ein langärmeliges T-Shirt und eine dünne Jacke, obwohl es feucht, windig und zwölf Grad kaltist.
Als erfahrener Alpinist hätte Paolo Cognetti eigentlich das Zwiebelprinzip befolgen müssen - immer ein paar Extraschichten griffbereit haben und notfalls schälen. Doch trotz Schniefnase tut ihm die kleine Wanderung gut. Auf seinen Wanderungen, Skitouren und Kletterpartien fühlt er sich frei im Kopf. "Gehen ist wie Zen-Meditation für mich", sagt er, "der Rhythmus meiner Schritte, der gleichmäßige Atem überträgt sich, wenn es gut läuft, auf meine Gedanken undTexte."
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Paolo Cognetti ist einer der erfolgreichsten italienischen Autoren. Für seinen Bestseller "Acht Berge", der im Aostatal spielt, erhielt er den renommiertesten Literaturpreis Italiens, den Premio Strega. Das Buch wurde in 40 Sprachen übersetzt und gerade verfilmt. Sein neuer Roman "Das Glück des Wolfes" erscheint in mehr als 20 Ländern. Mit knappen, fast kargen Sätzen erzählt der 1978 in Mailand geborene Schriftsteller Geschichten über das Leben in der Natur, über Einsamkeit undFreundschaft.
Holzhacken, Feuermachen, Schreiben: Das ist sein Leben in der Bergwelt
Es waren Eremiten wie Henry David Thoreau, Chris McCandless und Schriftsteller wie Jack London, die Paolo Cognetti vor zehn Jahren dazu inspirierten, sich in die Bergeinsamkeit zurückzuziehen. Nach einer Trennung, einem abgebrochenen Mathematikstudium und Versuchen als Dokumentarfilmer "fühlte sich mein Leben irgendwie leer an", erzählt er. Er suchte einen Fluchtort und mietete eine Hütte in den Bergen. In einem ehemaligen Stall mit der Adresse Fontane Numero 1, in einem abgelegenen Tal im Piemont, wohnt er seitdem von Frühsommer bis Herbst. Der Aufenthalt in 2000 Metern Höhe bringt ihm Bodenhaftung, er verbringt seine Tage dort oben mit Holzhacken, Feuermachen, Wandern, Lesen und Schreiben. Wenn er sich unbeobachtet fühlt, spreche er auch mit Tieren, singe vor sich hin und lausche den Geräuschen des Waldes, gibt erzu.
Die Bergleidenschaft ist bei Paolo Cognetti genetisch bedingt. Seine Eltern waren wander- und bergbegeistert, jede Sommerferien verbrachte die Familie in die Alpen. Zum Geburtstag bekam er regelmäßig einen Tag mit einem Bergführer im Hochgebirge geschenkt. Als Zehnjähriger stand er bereits auf Viertausendern im Monte-Rosa-Massiv, das man an klaren Tagen aus von Mailand sehen kann. "In Mailand gibt es einen ähnlichen Ort wie den Olympiaberg in München", sagt Paolo Cognetti bei der kurzen Hügeltour, "dort gehe ich manchmal hin, um die Alpenanzuschauen."
Cognetti fühlt sich nicht als Städter, aber auch nicht als Bergmensch, "eher so halb-halb". Er hat mal versucht, ein ganzes Jahr durchgehend in seiner Hütte in den Bergen zu wohnen, aber den Winter dort hat er kaum ausgehalten. "In 2000 Metern Höhe ist das Leben hart, man muss täglich Holz hacken und einheizen, ich bin lange Zeit allein gewesen", erzählt er. In der Stadt fehle ihm immer irgendetwas, genauso wie ihm in den Bergen etwas fehle. Von dieser Zerrissenheit zwischen Stille und Trubel, Einsamkeit und Gesellschaft, Wildnis und Zivilisation berichtet er in seinen Büchern. Der 2016 erschienene Roman "Acht Berge" ist die Geschichte einer Männerfreundschaft: Pietro und Bruno haben als Kinder ein verlassenes Bergdorf erkundet, als Erwachsene schlagen sie verschiedene Wege ein. Der eine bleibt in seinem Heimatdorf, der andere studiert in Mailand und wird Dokumentarfilmer. Bei Pietros Besuchen im Bergdorf dreht sich alles um die Frage, welcher Lebensentwurf besser ist: Stadt oder Land? Gehen oder Bleiben? Was zählt imLeben?
In den Geschichten von Paolo Cognetti sind es Freundschaften, die zählen. Und sie funktionieren aus seiner Sicht in den Bergen etwas anders als in der Stadt. "In einem Bergdorf hilft man sich, man klopft einfach mal an die Tür und trinkt einen Kaffee zusammen - in der Stadt würde man so etwas eher nicht machen." Der Autor ist aber weit entfernt davon, die Bergwelt zu idealisieren, er erzählt auch von Alkoholismus, Arbeitslosigkeit und Landflucht. Die Stilisierung der Alpen als Naturparadies, die in der Romantik aufkam und in Klischees bis heute weiterlebt, ist ihm ebensozuwider.
In die Berge zieht es ihn wegen der Weite, wegen der körperlichen Anstrengung, wegen der Höhenluft, die ihn auf neue Gedanken bringt. Bei seinen Touren begleitet ihn meistens Lucky, sein Hund, ein sportlicher Border Collie. Am liebsten ist er als Solo-Bergsteiger unterwegs, nicht in Wandergruppen. Was andere als Einsamkeit bezeichnen würden, empfindet er als Erholung. Beim Wandern schreibt er in Notizbücher, von Memos auf dem Smartphone sieht er ebenso ab wie von Aktivitäten in sozialen Netzwerken. Twitter, Facebook und Instagram benutzt er generell nicht, lieber geht er in der Zeit, die er dadurch spart, im Wald spazieren, in einem Park in Milano oder notfalls auf demOlympiaberg.
"Ich behaupte aber nicht, dass ich allein glücklicher bin als in Gesellschaft anderer Menschen", sagt er, "der Satz aus ,Into the Wild' ist zutreffend: ,Happiness is only real when shared'." Das Glück ist eben nur real, wenn man es teilt. Paolo Cognetti hat mit seinen Büchern einen Weg gefunden, sein Glück mit sehr vielen Menschen zuteilen.